Kollegiatstift St. Marien

Stettin / Szczecin

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Mit dem Stettiner Kollegiatstift wurde 1261 das dritte von insgesamt sechs pommerschen Kanonikerkollegien eingerichtet. Von seinem Gründer, Herzog Barnim I. (um 1210/18–1278), wurde es zunächst an der nördlich der Stadt gelegenen Peter- und Paulskirche angesiedelt, die damals dem 1243 gegründeten Zisterzienserinnenkloster Marienthal gehörte. Den Nonnen blieben zwar die Einkünfte aus der Kirche erhalten, doch verzichteten sie zugunsten des neuen Stifts auf sämtliche Opfergaben in dem Gotteshaus, sodass die Kanoniker durch diese und andere Einkünfte aus weiteren Stadt- und Dorfpfarrkirchen sowie einigen Dörfern finanziell abgesichert waren. Erst einige Jahre später wurde für das Petristift eine eigene Kirche errichtet: Im westlichen Bereich der 1249 abgerissenen Herzogsburg bzw. im Norden des neuen Stadtgebiets stellte der Stadtrat einen Platz für den Kirchbau zur Verfügung, der 1263 begonnen wurde. Neben der Marienkirche erhielten die Stiftsherren einen großen Teil des ehemaligen Burgareals zum Besitz, auf dem auch eine Stiftsklausur sowie deren Wohnhäuser (curiae) errichtet wurden.

Der zu einem Wohnhaus ausgebaute östliche Kreuzgangarm mit Durchgang nach Süden zu Beginn des 20. Jhs. / Archiv WUOZ Szczecin, Reproduktion A. Kieseler

Eine erlesene Gesellschaft

Der stark umgebaute Ostflügel des Marienstift-Kreuzgangs mit gotischen Elementen – das einzige erhaltene Gebäude des Stettiner Marienkollegiats / Foto A. Kieseler

Das Kapitel setzte sich aus zwölf Kanonikern zusammen, deren zentrale Aufgabe es war, den feierlichen Chordienst in der Marienkirche zu begehen; zudem hatten sie in späterer Zeit mitunter wichtige Ämter am Herzogshof inne. Es handelte sich um eine elitäre Gemeinschaft, deren Mitglieder zumeist aus dem Adel oder Patriziat stammten, an einer oder mehreren Universitäten studiert hatten und hohe akademische Grade besaßen. Bei der Bürgerschaft waren die der Aristokratie und der städtischen Oberschicht entstammenden, hochgebildeten Kanoniker weniger beliebt, worauf wohl auch die geringe Zahl an Stiftungen von Innungen und der Bürgerschaft zurückzuführen ist. Gerade mit der Kirche der Bürger, der Stettiner Jakobikirche, stand das Kollegiat des Öfteren im Streit – etwa um die Pfarrrechte auf der der Stadt gegenüberliegenden Oderinsel Lastadie / Łasztownia, um Pfarrgrenzen überschreitende Bestattungsrechte und v. a. um das Führen einer Schule zur Ausbildung des Klerus. In den meisten Fällen wurden die Auseinandersetzungen zugunsten des Stifts entschieden.

Ein gewaltiger Kirchbau

Ein eindrückliches Bild von der 1789 durch Blitzschlag abgebrannten und 1830 vollständig abgetragenen Marienkirche verdanken wir dem Philologen und Historiker Carl Fredrich  (1871–1930) – von 1914 bis zu seinem Tode Direktor des Stettiner Marienstiftsgymnasiums –, der auf Grundlage mittelalterlicher und neuzeitlicher Dokumente eine umfangreiche Bau- und Inventargeschichte der Kirche und deren Anbauten verfasste: Bei Baubeginn in den 1260er Jahren wurden zunächst der 22 m lange und 11 m breite Chor sowie die unter diesem liegende, von Beginn an zur Herzogsgruft bestimmte Krypta errichtet, in der dann auch der Gründer Herzog Barnim I. 1278 seine letzte Ruhe fand. Unter der Ägide dessen Witwe Mechthild († 1316), die ebenfalls in der Kirche bestattet werden sollte, wurde der Bau in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts weitgehend fertiggestellt – eine dreischiffige gewölbte Hallenkirche mit vier Jochen, die im Westen mit einem mächtigen Westwerk mit einem (Nord-)Turm und im Osten mit einem angesetzten Chorumgang abschloss. Zusammen mit den im 15. Jahrhundert an den Chor und das Schiff angesetzten Kapellen wies der Bau eine Gesamtlänge von annähernd 80 m auf, womit dieser zusammen mit der benachbarten Jacobikirche und der Marienkirche in Stargard / Stargard zu den größten Kirchen Pommerns gehörte. Im Norden schloss sich an die Kirche ein unregelmäßig-viereckiger Kreuzgang an, westlich standen das 1469 erstmals erwähnte Kapitel- sowie das Schulhaus des Stifts, im Umfeld des Kirchplatzes die Wohnhäuser bzw. -höfe der Kanoniker. Von der gesamten Anlage haben sich heute nur noch der zu einem Wohnhaus umgebaute östliche Kreuzgangarm und einige mittelalterliche Keller der ehemaligen Domherrenhäuser („Professorenhäuser“) erhalten.

Die Marienkirche auf einer Ansicht von Stettin, 1580er Jahre (Ausschnitt) / Civitates orbis terrarum IV

Von der Stiftsschule zum Mariengymnasium

Spätestens mit der Verlegung des Stifts an die Marienkirche im Jahre 1263 besaß dieses eine Schule, an der der Scholastiker, ein bestellter Schulrektor und dessen Gehilfen (locati) den Unterricht führten. Sie blieb zunächst die einzige Schule der Stadt, bis es dem Priorat der Jacobkirche im Jahre 1391 gegen den starken Widerstand der Stiftsherren gelang, eine eigene Schule einzurichten. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde ein weiteres Kollegium an der Marienkirche angesiedelt, das zur Erziehung von 24 Waisenknaben durch den Stettiner Bürgermeister Otto Jageteufel († 1412) gestiftet worden war. Mit der Reformation und den einhergehenden Schulreformen sollten die Schule des Ottenstifts und das Jageteufelsche Kollegium zusammengelegt werden, wozu es aber nicht kam. Während Letzteres bis zum 19. Jahrhundert als Internat weiterbestand, ging Erstere im 1543 gegründeten „Herzoglichen Pädagogium“ auf, das in den Stiftsgebäuden an der Marienkirche unterkam, zunächst aus säkularisiertem Kirchengut finanziert und sich alsbald zu einer angesehenen Landesschule entwickelte. Aus dieser wurde in der Schwedenzeit das „Gymnasium Carolinum“, aus diesem dann das Mariengymnasium, dessen 1830–1832 errichteter Bau noch heute als Schulgebäude genutzt wird.

von Andreas Kieseler

Das in den 1830er Jahren errichtete und nach dem Zweiten Weltkrieg erneuerte Gebäude des Marienstiftsgymnasiums / Foto A. Kieseler

Reisetipp

Die St. Marienkirche in Köslin /Koszlin
Marienkirche in Köslin / Wikimedia Commons

Die an der Oder gelegene Hauptstadt der Woiwodschaft Westpommern lädt mit zahlreichen historischen Sehenswürdigkeiten zu einem ausführlichen Stadtrundgang ein. Zu den besonders eindrucksvollen Bauwerken des Mittelalters gehören das Rathaus am Alten Markt (Ratusz staromiejski, ul. Księcia Mściwoja II 8), die St. Peter- und Paulkirche im Norden der Altstadt (Kościół św. Piotra i Pawła, pl. św. Piotra i Pawła 4), die Kirche des ehemaligen Franziskanerklosters unweit des Hauptbahnhofs (Kościół św. Jana Ewangelisty, ul. Świętego Ducha 9) sowie die zentral in der Altstadt gelegene Jacobikirche (Bazylika archikatedralna św. Jakuba, ul. Świętego Jakuba Apostoła 1), von deren Turm sich ein weiter Blick über die Stadt bietet.

Besonders empfehlenswert ist des Weiteren der Besuch der ehemaligen Residenz der pommerschen Herzöge – des Stettiner Schlosses (Zamek Książąt Pomorskich, ul. Korsarzy 34) mit zahlreichen Ausstellungen zur Schloss-, Stadt- und pommerschen Landesgeschichte. Wenige Schritte südlich des Schlosses liegt das einzige erhaltene frühneuzeitliche Bürgerhaus der Stadt – das Loitzenhaus aus der Mitte des 16. Jhs. (Kamienica Loitzów, ul. Kurkowa 1). Am Nord- und am Westrand der Altstadt befinden sich das Königs- und des Berliner Tor (Brama Królewska, pl. Hołdu Pruskiego 8; Brama Portowa, Pl. Brama Portowa 2) aus dem 18. Jh. Außerdem lohnt sich ein Abstecher zur nördlich der Altstadt und dort direkt oberhalb der Oder gelegenen Hakenterrasse (Wały Chrobrego), einem zum Beginn des 19. Jhs. errichteten Bauensemble, zu dem auch das Gebäude des ehemaligen Stadtmuseums gehört, in dem sich heute das Nationalmuseum Stettin (Muzeum Narodowe w Szczecinie) befindet.

Überblick.

Identifikation

Geistliche Zugehörigkeit
Säkularkanoniker
Patrozinium
St. Maria

Gründung/Aufhebung

Gründungsdatum
1261 (als Petristift)
Gründung durch
Herzog Barnim I. (um 1210/18–1278)
Aufhebungsdatum
1540er Jahre

Ortslage

Ortslage
Im östlichen Teil der historischen Altstadt, im Bereich des „Mariengymnasiums“ (IX Liceum Ogólnokształcące, plac Mariacki 1) bzw. südlich der „Professorenhäuser“
Kirchlicher Verwaltungsbezirk
Bistum Cammin
Territoriale Zugehörigkeit
Herzogtum Pommern

Spätere Nutzung

Protestantische Pfarrkirche, Schulgebäude

Weitere Informationen

Quellen und Literatur

[1] Carl Fredrich: Die ehemalige Marienkirche zu Stettin und ihr Besitz. Baltische Studien N. F. 21, 1918, 143–246.

[2] Carl Fredrich: Die ehemalige Marienkirche zu Stettin und ihr Besitz II. Baltische Studien N. F. 23, 1920, 1–60.

[3] Hermann Hoogeweg: Die Stifte und Klöster der Provinz Pommern 2 (Stettin 1925), S. 497–567.

[4] Radosław Pawlik: Die Prälaten des Kollegiatkapitels an der Marienkirche in Stettin (Szczecin) während der Herrschaft des pommerschen Herzogs Bogislaw X (1474/78–1523). Quaestiones Medii Aevi Novae 28, 2023, 431–466.

[5] Martin Wehrmann: Die Gründung des Domstiftes zu St. Marien in Stettin. Baltische Studien 36/2, 1886, 125–157.

[6] Martin Wehrmann: Geschichte des Königlichen Marienstifts-Gymnasiums (des früheren Herzoglichen Pädagogiums und Königl. akademischen Gymnasiums) in Stettin. 1544–1894. In: Festschrift zum dreihundertfünfzigjährigen Jubiläum des Königlichen Marienstifts-Gymnasiums zu Stettin am 24. und 25. September 1894 (Stettin 1894), S. 1–165.

[7] Grzegorz Wejman: 750-lecie powstania szczecińskiej kapituły kolegiackiej św. Piotra Apostoła (Mariackiej). Rocznik Historii Kościoła 5(60), 2013, S. 19–48.

[8] Sylwia Wesołowska: Zarys dziejów szkolnictwa na Pomorzu i w Szczecinie do połowy XVI w. In: Agnieszka Borysowska (red.): Od Pedagogium Książęcego do Gimnazjum Mariackiego. Z dziejów szkolnictwa półwyższego w Szczecinie do początków XIX w. (Szczecin 2018), S. 11–22.

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Veröffentlicht am 25. Juni 2024
Zuletzt bearbeitet am 25. Juni 2024
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